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Erfahrungsberichte

Sternenkindmutter berichtet

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Bruno, Sten und Kenny

Erfahrungsbericht Sternenkindmutter Mandy KorbDrei Kinder sind schon da, dann folgt eine Schwangerschaft mit ungeahnten Schrecken: Zunächst sind im Ultraschall Zwillinge zu sehen, dann sogar Drillinge. Es folgt der Verdacht auf schwere Herzfehler bei einem der Kinder… Sechs Jahre danach blickt die Mutter auf ihren Weg zurück. Sie erzählt, wie die geburtshilfliche Beratung erlebt hat und wie sie den Abstand von Ihrem jüngsten Kind verkraftet.

Das Leben ist nicht mehr wie bisher – das Wort Gefühlsspagat beschreibt mich und meine Situation wahrscheinlich am treffendsten.

„Herzlichen Glückwunsch, Sie sind schwanger!“ Das war der Satz den ich nun zum vierten Mal hörte. Nein, das kann nicht wahr sein – meine Familienplanung war abgeschlossen. Als bereits Dreifach-Mutter war mir bewusst, nicht nur ein Baby, sondern ein Kind zu bekommen. Was das bedeutet, wie sehr ein Kind, und zwar jedes einzelne, das eigene Leben verändert. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, bereits „ erfahren“ und „erwachsen“ zu sein. Ein Irrtum!

Die ersten Telefonate mit meiner lieben Hebamme, die mich schon früher begleitete, haben mich beruhigt. Wer drei Kinder hat, schafft auch ein viertes. So wenig Arztbesuche wie möglich, nehme ich mir vor – bloß nicht verrückt machen lassen. Die schreckliche Übelkeit hört ja irgendwann auf. Wann ist eigentlich irgendwann? Geburtsvorbereitungskur? – Nein, danke. Eigene Bücher könnte ich darüber schon schreiben – nach drei Geburten. Schwangerschaftsgymnastik im Wasser? Ja. Das klingt gut! Ich probiere es aus und fühle mich pudelwohl dabei. Der erste Schreck verdaut – auf den nächsten.


Zwillinge

Und da kommt es schon. Ein Ultraschalltermin. Eigentlich freu ich mich jetzt ein bisschen, denn es wird das erste Foto vom Bauchzwerg geben. Zu meiner Überraschung sind zwei Kinder zu sehen.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Mein Bauch wächst rasant. Ich habe wahnsinnige Rückenprobleme. Das Ersttrimesterscreening bei meiner Fachärztin – bei Zwillingen muss man schon vorsichtiger sein, meinte mein Gynäkologe – ist unauffällig. Das Schwangerenaqua läuft, es ist mein Highlight jede Woche. In meinem Kopf versuche ich mir den Alltag mit meinen Kindern und den „zusätzlichen“ Zwillingen vorzustellen. Eine Freundin schleppt mich zu Pro Familia. Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, mit Fremden über meine Situation zu sprechen, eventuell sogar um Hilfe zu bitten. Der Termin hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Schwangerschaftswoche 21 – Ultraschalltermin – heute bin ich etwas aufgeregt. Jungen? Mädchen? Oder Beides?


Nein, Drillinge!

Während der Arzt so schallt und sein Gesicht immer ernster und ernster wird, mache ich mir keine wirklichen Gedanken. Mein stattlicher Bauch ist voller Leben – ein Treten und Strampeln scheinbar pausenlos, nichts mit zarten Schmetterlingen im Bauch. Endlich sagt der Doktor etwas. Drillinge.

„Gespräche helfen mir. Meine Hebamme klärt mich auf über meine Möglichkeiten. Sie hält mich nicht für verrückt, die Schwangerschaft fortzuführen“

Meine Welt bleibt stehen oder sie dreht sich – ich kann es nicht sagen. Da war er, der Moment der absoluten Hilflosigkeit. Mein Gynäkologe mein, Drillinge hatte er noch nie, und verweist mich an die Fachärztin. Meine Hebamme meint, Drillinge hatte sie noch nie, und Aquafitness ist ihr jetzt zu heikel. Und ich? Drillinge hatte ich noch nie. Mein Bauch – drei Babys. Zu Hause drehe ich fast durch, durchforste das Internet. Lese Dinge wie: Drillinge durch künstliche Befruchtung. Überstimulation, Kaiserschnitt, Level-1-Klinik, Risikoschwangerschaft etc. Nach vielen Tränen beginne ich wieder zu fühlen… Mit den Worten „Ich habe noch nie ein Kind übersehen“ begrüßt mich die Fachärztin. Tja, denk ich – anscheinend doch. Der Termin verläuft konzentriert und ruhig. Sie nimmt sich viel, viel Zeit, jedes einzelne Baby zu vermessen und zu begutachten. Der 3D-ultraschall ist neu für mich. Wie nah und eng die drei in meinem Bauch sich sind. Sie scheinen fast miteinander zu spielen. Sie berühren sich und dann treten sie sich gegenseitig. Eineiige Drillingsjungen – ich bin überwältigt. Noch wie in Hypnose schau ich gespannt auf den Monitor, als ich mich plötzlich ein Satz in die Realität zurückholt: „Es tut mir leid“. Verdacht auf schwere Herzfehler bei zwei meiner Babys. Mit einer Überweisung in die Uniklinik und einem Gefühl von Ohnmacht verlasse ich die Praxis.


In der Uniklinik.

Die Zeit im Wartezimmer der Uniklinik ist unendlich. Es ist heiß, schlechte Luft, unzählige Schwangere, eine unheimliche beängstigende Atmosphäre, unfreundliche Schwestern. Jede Frau mit rundem Bauch, die aus dem Untersuchungsraum kommt, weint. Ich werde vertröstet – bei der mit den Drillingen dauere das länger, sagt der Arzt. Zuerst sind die anderen dran. Wie nett für die anderen, denke ich! Und im gleichen Augenblick nehme ich sie wahr - zum ersten Mal – die Blicke der anderen Frauen. Erschrockene Gesichter, als hätten sie gerade selbst von ihrer eigenen Drillingsschwangerschaft erfahren. Alle Augen sind auf meinen Bauch gerichtet, meinen wundervollen prächtigen Kugelbauch. Und dann geht es los, ich kann es nicht stoppen. Fragen über Fragen:

„Drillinge“ – „Ja“
„Echt?“ – „Ähm, ja“
„Wie weit?“ – „Schwangerschaftswoche 21“
„Was wird es’ denn?“ – „Jungen“
„Ich würde mich erschießen!“ – „Was?“
„Die erste Schwangerschaft?“ – „Nein. Ich habe bereits drei Kinder zu Hause.“
„Alle vom selben Mann?“ – Ja, komische Frage. Ist das so ungewöhnlich?“
„Künstliche Befruchtung?“ – „Wie bitte? Was geht Sie das an?“ Und, nein! Ich habe bereits drei Kinder.“

Dann bin ich endlich dran. Unfreundlich, der Doktor. Massenabfertigung. Einen „Guten Tag“ wäre schon angebracht gewesen. Er spricht: gar nicht mit mir, diktiert während der Untersuchung seiner „Sekretärin“. Ich höre nur Fetus1, Fetus2, fetus3, Schädellage, Schräglage, Querlage. Das hätte ich ihm auch sagen können – ich kann die Babys sehr gut selbst fühlen. Kopf, Po, Fuß. Ich behaupte sogar, zu wissen, wer welcher ist. Bruno (1), Sten (2) und Kenny (3). Die Namen standen sofort nach dem 3D-Ultraschall fest. Bruno – der Bär, der größte der drei Jungs. Sten Nummer 2, mittendrin – zwischen seinen Brüdern. Er wird kämpfen müssen, sagt mir mein Bauchgefühl. Sten steht für Stein, fest und hart. Nummer 3 ist Kenny – wie er gelächelt hat auf dem Monitor. Der Hübsche, der Schöne. Es geht weiter: Es fallen Abkürzungen und Begriffe wie BPD, ATD, FL, SG, umbilikaler Doppler, uteroplazentraler Widerstand…Herz!

„Als Kenny starb, pumpte ich einfach weiter ab – drei Tage passierte nichts, dann floss die Milch wieder schier unendlich“

Meins schlägt! Schnell. Laut.

Fetus 1: Unauffällig – prima, denke ich mir.

Fetus 2: Ohne Befund, - was? Ehrlich? Ja, bitte, bitte, bitte weiter so. Fetus 3: Große Baustelle, hypoplastisches Linksherzsyndrom – Mehrlingsschwangerschaft – nicht lebensfähig! – Wie bitte? Sie können sich anziehen! Wenn Sie Fragen haben, in zwei Stunden ist der Kinderkardiologe da, der kann Ihnen alles erklären. Wenn Sie wollen. Ja, da möchte ich! Ich verlasse das Sprechzimmer – ich weine nicht.


Schwangerschaftsabbruch empfohlen.

Der Kardiologe ist freundlich und wirkt nicht so unnahbar. Menschlichkeit sollte übrigens jeder Arzt in seiner Ausbildung auf den Stundenplan haben. Mir wird der Herzfehler meines Kindes erklärt, Operationen, die nötig sind, um mit einem halben Herzen leben zu können. Ich begreife sehr schnell, wie weit die Medizin heutzutage ist – jedoch auch, wo die Grenzen sind. Der Arzt fasst es nüchtern zusammen: Mehrlingsschwangerschaft, definitiv Frühgeburt, Operation bei unreifem Kind nicht möglich. Chancen für die Beiden gesunden Kinder schaffen – nur durch Fetozid. Reduktion jedoch nicht möglich aufgrund der Eineiigkeit der Kinder. Seine Empfehlung: schnellstmöglicher Abbruch der Schwangerschaft! Er füllt einen Zettel aus, reicht ihm mir in die Hand und erklärt mir noch, dass der Abbruch nicht hier in der Klinik durchgeführt werden kann. Ich lasse den Zettel auf dem Schreibtisch liegen, stehe vom Stuhl auf, verabschiede mich und verlasse das Zimmer. Wieso fragt eigentlich keiner, wie es mir geht? Wie geht es mir eigentlich?


Wie in Trance.

Die Vorstellung, dass eines meiner Kinder nicht überleben wird, nicht überleben kann, lässt mich an meine emotionalen Grenzen stoßen. Wenn ich von mir und meiner Situation erzähle und versuche, meine Gedanken und Gefühle mitzuteilen, gibt es zwei Situationen.

A: Es wird schon alles gut. Warte doch erst einmal ab.

B: Kein Gespräch möglich, weil mein Gegenüber, in Tränen aufgelöst, schluchzt und weint. Man denkt, es passiert einem nicht. IN diesem Moment fällt man einfach nur wie in Trance. Auch hier unterstützt mich wieder meine Hebamme. Gespräche helfen mir, das Unmögliche zu verstehen. Hält mich nicht für verrückt, die Schwangerschaft fortzuführen. Ich bin dankbar, dass ich einfach aussprechen konnte, was gerade durch meinen Kopf ging. Ethikkommission – dieses Wort hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben, und fragte mich: Wie kann es sein, dass andere/Fremde über mich und meine Leben entscheiden dürfen? Und viel wichtiger: Haben alle vergessen, dass es um meine Babys geht, meine Kinder, meine Zukunft? Mir wird bewusst, dass meine Entscheidungen mein weiteres Leben beeinflussen. Sie müssen also so sein, dass ich später noch damit leben kann.

Gedanklich gehe ich immer und immer wieder alle möglichen Optionen durch. Es kann sein, dass Kenny noch in mir stirbt. Werde ich es merken? Wie wird es denn den anderen beiden gehen, wenn ihr Bruder neben ihnen im Mutterleid stirbt? Sollten sie nicht gerade hier sicher sein, sich geborgen fühlen zu können. Welche „Narben“ wird es bei den beiden hinterlassen? Wahrscheinlicher ist es, dass er die Geburt nicht überlebt oder kurz darauf stirbt. Im Internet google ich nach Fotos von Babys mit hypoplastischem Linksherzsyndrom. Für alle Schwangeren sollte es verboten werden, Computer zu benutzen. Hört lieber auf euer Bauchgefühl! Ich versuche, jeden Tag der Schwangerschaft bewusst wahrzunehmen und zu genießen. Ich streichele meinem Bauch, singe meinen ungeborenen Kindern Lieder vor, unterhalte mich mit Ihnen. So nah wie jetzt werde ich meinen Kindern nie wieder sein. Sie sind direkt unter meinem Herzen. Ich bereite alles zu Hause vor für meine Jungs. Kaufe drei Babybettchen und baue sie auf. Drei!!! Ganz bewusst drei. Das darf alles nicht wahr sein. Mit der Level-1-Klinik ist bereits Kontakt aufgenommen. Die Intensivschwangerenberatung findet wöchentlich statt. Sehr anstrengend für mich ist, jedes Mal die 60-minütige Fahrt, Parkplatzstress, weite Wege laufen, 60 Minuten wieder zurück. Immer im Hinterkopf die Worte, ich solle mich schonen und ausruhen. Mit den Oberärztinnen der Gynäkologie und der Kinderintensivstadion wurde alles besprochen: Keine Verlegung von Kennys ins Herzzentrum. Ich bin verwundert, dass es so problemlos laufen soll. Keine Ethikkommission, von der mir die Hebamme erzählt hat. Jetzt, Jahre später, weiß ich, wieso: Keiner hat mit dem Überleben meines Sohnes gerechnet.
Blasensprung

    1. Juli 2012, Schwangerschaftswoche 27+3: Ein Uhr in der Nacht wache ich auf und setze mich im Bett auf. Was ist los? Habe ich etwas gehört? Ich muss auf die Toilette. Komisch, denke ich noch – wieder ein Geräusch und mir ist alles klar. Die Fruchtblase! Der Notarzt kommt schnell. Er fährt mich zu meiner Verwunderung nicht in die Wunschklinik, sondern ins nächstgelegene Krankenhaus. Ich muss aussteigen, zur Notaufnahme von da in den Kreißsaal. Eine müde Ärztin und eine schlechtgelaunte Hebamme kommen, um mich zu untersuchen. Alle drei Babys geht es gut, die Herzen schlagen kräftig – versucht mich die Ärztin zu beruhigen. Was sie mit diesen Worten in mir auslöst, ahnt und merkt sie nicht. Endlich wird mein Flehen erhört und die Fahrt geht weiter zur Wunschklinik. Mit Blaulicht. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass die Zeit gekommen ist. Zeit, mich zu verabschieden. Ich bin nicht so weit. Es ist viel zu früh. Ich habe Angst-


Keiner sagt etwas…

Ich werde wieder untersucht. Schrecklich! Warum eigentlich? Meine Fruchtblase ist geplatzt, die Geburt geht los. Irgendwie hört mir keiner zu. Mir ist übel – ich habe Schmerzen, Wehen, aber vor allem Angst. Ich werde in ein Zimmer geschoben, in ein Bett gelegt. Liegen solle ich die nächsten Wochen – auch nicht aufstehen, um auf die Toilette zu gehen, bis zur 32- Schwangerschaftswoche ist das Ziel. Bevor alle den Raum verlassen, nutze ich die Gelegenheit und sage noch einmal laut und deutlich: „ Meine Babys kommen jetzt!“ Ich habe Wehen, sehr stark und scherzhaft. Genervte Blicke werden ausgetauscht. Ich sehe sie genau – kann aber nicht reagieren, da ich schon wieder eine heftige wehe spüre. Die Hebamme lenkt ein und versucht die Situation zu entschärfen. Sie schlägt vor, mich mit in den Kreißsaal zu holen und dann, wenn ich endlich beruhigt bin, dann bringt sie mich zurück auf mein Zimmer. Ich willige nickend ein. Sprechen kann ich auch nicht mehr. Alles geht nun rasend schnell. Der Arzt untersucht meinen Muttermund, wird kreidebleich und ruft: „Ein Kopf ist schon da. Notkaiserschnitt!“ Die Hebamme schaut mich an – nicht pressen! Und irgendwie versucht mich jemand über PDA und Vollnarkose aufzuklären.
Mir der Trauer zu leben, ist nicht einfach. Der Tod war im Vergleich dazu gar nicht so schlimm.“

Es geht in den Operationssaal. Der Oberarzt: „ Warum trägt die Frau noch ihre privaten Klamotten?“ Wieso ist hier nichts rasiert? Wie soll ich da operieren?“, schallt es durch das kalte, viel zu helle Zimmer. Es wird kalt und nass auf meinem Bauch und es brennt höllisch – ich spüre einen Schnitt. „Legt ihn nicht weg. Ich möchte aufwachen und Kenny im Arm halten“ Ohne Baby im Arm erwache ich – traue mich nicht zu fragen. Keiner sagt etwas. Ich fühle mich schwach und leer. Am 15. Juli 2012 erblickten meine drei Söhne das Licht der Welt:

    • 10.01 Uhr: Bruno 950 g, 36 cm
    • 10.02 Uhr: Sten 910 g, 35 cm
    • 10.03 Uhr: Kenny 830 g, 35 cm

Sechs Jahre später.

Wie geht es Dir? Mal so, mal so. Das ist meine ehrliche Antwort auf die wohl meist gestellte Frage. Meinen 40. Geburtstag habe ich gefeiert und bin um viele Erfahrungen und Gefühle reicher. Nicht besser geht es mir – nur anders. Bruno ist kerngesund und kommt dieses Jahr in die Schule. Vor einigen Tagen hat er sein Seepferdchen gemacht – ein harter Kampf für ihn. Skifahren konnte er schon mit knapp drei Jahren. Sten ist schwerstbehindert – Pflegestufe 5 – Palliativkind. Mein Mausebär. Kenny, mein klitzekleines Käferchen, schenkte mir sechs Wochen. Er starb am 29. August 2012.
Zwischen allen Welten.
Zwei Tage nach der Geburt wurde ich gegen 19 Uhr von der Hebamme zur Intensivstation gebracht. Kenny gehe es sehr schlecht und ob ich bei ihm sein möchte. Ja, sagte ich, ohne zu wissen, was es bedeutet. Mit betroffenen Gesichtern legten sie mir mein klitzekleines Kind in den Arm. Ich habe Tränen in den Augen, während ich diese Zeilen schreibe. Fühle es noch genau. Unbeschreiblich, dieses winzig, kleine, warme Wesen. So viel Liebe, Nähe, Wohlgefühl hatte ich noch nie gespürt. Kam das von Kenny? Von mir? Die Schwestern die ständig piependen Monitore lautlos. Fragten, ob ich jemanden anrufen möchte, damit ich nicht allein wäre. Bei dieser Frage wurde es mir plötzlich bewusst. Nicht zum Kennenlernen hatte ich Kenny in den Arm bekommen – nein, zum Abschiednehmen. Plötzlich bekam ich Panik. Was passiert nun? Merke ich, wenn Kenny stirbt? Werde ich die Kraft haben, ihn zu halten? Werde ich die Kraft haben, loszulassen? Alles war ganz leise. Im gefühlten Dunkeln saß ich da mit meinem Kenny im Arm. Ich summte ihm vor, streichelte den winzigen Körper, sog seinen Duft ein. Wie die Stunden vergingen, merkte ich nicht. Es gab keine Zeit. – nur uns beide. Gegen 23 Uhr kam der Oberarzt zurück, nahm Kenny aus meinem Armen, legt ihn in seinen Inkubator zurück und sagte: „ Die Werte sind stabil. Das hat ihm wohl sehr gut getan. Er gratulierte mit noch zur Geburt und wünschte mir Kraft für das, was kommen werde. Ich bedankte mich höflich, ohne zu ahnen, welche Bedeutung seine Worte hatten.


Was mir geholfen hat.

Die nächsten Wochen und Monate pendelte ich zwischen Klinik und Zuhause. Täglich verbrachte ich drei Stunden im Auto, um die Babys zu besuchen. Selten nahm ich das Angebot an, in der Klinik ein Eltern zimmer zu nutzen. Mein Mann musste einfach in der ganzen Zeit den kompletten Haushalt und Kinder übernehmen. Fleißig pumpte ich Muttermilch – viel mehr als die drei Jungen benötigten. Ein Segen war, dass man mich in der Milchküche immer mit einem Lächeln begrüßte. Stolz stellte ich meine gut verpackten, in Kühltaschen verstauten Flaschen auf den Tresen. Es ist unglaublich, zu was die weibliche Brust in der Lage ist. Selbst als Kenny starb, pumpte ich einfach weiter – drei Tage passierte nichts, dann floss die Milch wieder schier unendlich. Wahrscheinlich auch, weil ich mir darüber Gedanken machte. Es gehörte jetzt einfach zu meinen Aufgaben dazu. Wenn ich schon die Kinder nicht bei mir hatte, dann musste wenigstens für das leibliche Wohl gesorgt sein. Was mir wohl geholfen hat an manchen Tagen, einfach weiter zu atmen, frage ich mich manchmal? Es waren oft nur Kleinigkeiten. Zum Beispiel die Babywäsche meiner Kinder, als sie noch im Inkubator lagen – die winzig kleinen Bodys und Strümpfe wurden mir täglich mit nach Hause gegeben. Wie Schmutzwäsche. Schmunzeln muss ich, während ich diese Zeilen schreibe und daran zurückdenke. Tief hinein habe ich meine Nase vergraben und daran geschnüffelt. Ein Baby hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Hause – jedoch das Gefühl, dadurch etwas für meine Kinder zu tun. Etwas ganz Normales, Banales: Wäsche waschen. Auch erinnere ich mich noch daran, wie die Hebamme, die beim Kaiserschnitt dabei warm einmal gemeinsam mit mir auf der Intensivstation war. Aufgeregt erzählte sie mir von ihrer ersten Drillingsgeburt. Sie beschrieb, wie die Plazenta aussah und dass die Babys in Frischhaltetüten gepackt worden waren, um sie vor Auskühlung zu schützen. Sie sprach von meiner Geburt. Ich habe all das leider nicht mitbekommen, bin ihr jedoch dankbar für ihre Erzählung. Wahrscheinich ist ihr gar nicht bewusst, welches Geschenk sie mir dadurch gemacht hat. Dankbar bin ich den Krankenschwestern der Intensivstation, die meine drei manchmal heimlich gemeinsam in einen Inkubator legten und Fotos von Ihnen machten. Einen Zusammenbruch oder so etwas hatte ich nie. Irgendwie war das Gefühl, alle warteten darauf. So komisch es auch klingen mag – dafür hatte ich einfach keine Zeit. Eine Nachbarin bekam fast zeitgleich ihr Baby, ein kleine Mädchen. Ein Einling – wie witzig. Eine Karte und ein kleines Geschenk hängte ich an ihre Tür. Herzlichen Glückwunsch zur Geburt! Wie oft liefen mir die Tränen über die Wange – ich sah sie mit dem Kinderwagen stolz die Straße entlanglaufen. Hörte wie sie mit Nachbarn über ihren Babystress sprach. Wie sie Glückwünsche, Geschenke, aufmunternde Worte und kluge Ratschläge bekam. Ja, sogar Mitleid über ihre schlaflosen Nächte. Gewünscht hätte ich mir das auch. Oder einfach eine Frage – wahrscheinlich hatten alle Angst vor meinen Antworten. Als das bekam ich nicht. Die Kinder waren für alle noch nicht real. Nicht sichtbar. Von meiner Trauer, meinen Sorgen, meinen Gefühlen bekam keiner was mit. Ich fühlte mich allein. Ein Schmerz – körperlich, wie ich ihn noch nie kannte. Darüber reden können, ist Glück. Es wird viel zu wenig über extreme Frühgeborene gesprochen und über verstorbene Kinder erst recht nicht. Dasitzen und zuhören ist das Beste, was jemand machen kann.

Die Welt steht still.

Mit der Trauer leben zu können, ist gar nicht so einfach. Der Tod war im Vergleich dazu gar nicht so schlimm. Es gab zwei Tage in Kennys kurzem Leben, da hatte ich keine Kraft. Vielleicht war es auch einfach nur Angst. An zwei Tagen konnte ich ihn nicht in den Arm nehmen – zu schwer diese Aufgabe. Ihn halten, um ihn wieder loszulassen. Nicht zu wissen, ob es das letzte Mal war. Durch die kleinen Löcher im Inkubator habe ich meine Hände hineingesteckt. Mich entschuldigt, dass ich es einfach nicht mehr lange aushalte. Diesen Zustand, das Warten auf das Ende. Herbeigesehnt habe ich in manchen Augenblicken den Tod, damit es endlich vorbei ist, weil es unerträglich schien, aufzupassen und abzuwarten. Gleichzeitig geschämt habe ich mich für die Schwäche und gehofft auf ein Wunder. Am 29. August besuchte ich wie immer meine Babys. Meine 13-jährige Tochter war mitgekommen, auch sie durfte mithelfen beim Wickeln und inhalieren. Als große Schwester durfte sie auch mit ihrem Bruder kuscheln. Kenny wurde an diesen Tag von mir gewickelt. Seine Windel war voller Blut, der Blick der Krankenschwester löste Gänsehaut an meinem ganzen Körper aus. Wie sprachen nicht. An diesem Abend kam der Anruf, dass Kennys Herz stehen geblieben war. Und die Frage, ob ich ihn noch mal sehen wolle. Der Weg zur Klinik war kalt und lang. Es regnete. Wochenlang schien die Sonne schier pausenlos. Nun war es kalt, nass und grau. Wie lang ich mit Kenny im Am im Sessel saß, weiß ich nicht mehr. Es fühlte sich schlimm an. Das Zimmer war mit Kerzen geschmückt. Ich hielt ihn einfach nur fest. Keine Decke und kein Streicheln, nichts half dagegen – Kenny war so schrecklich kalt… Panik hatte ich davor, aber der Tod ist letztlich gar nicht so schlimm. Er ist auch nicht das Ende. Nichts hört dann auf. Unzählige Fragen bleiben. Monatelang, jahrelang. Ein Leben lang? Um einige beantwortet zu bekommen, forderte ich drei Jahre nach Kennys Tod seine Krankenhausunterlagen an. Wie schwer war er nach sechs Wochen? Hatte er Schmerzen? Sein gelbes U-Heft habe ich mir geben lassen. Ich habe es einfach für mich gebraucht. Natürlich ist es schwer(er), seinem Kind beim Sterben zuzusehen und es zu begleiten, als es abzutreiben. Für Kenny und mich jedoch war es die richtige Entscheidung. Danke mein klitzekleines Käferchen, für sechs Wochen, in denen ich dich kennenlernen durfte. Der Tod ist nicht das Ende. Ich liebe dich noch immer. Es gibt Dinge, die wir nicht wollen, aber akzeptieren müssen. Dinge, die wir nicht wissen wollen, aber lernen müssen. Und Menschen, ohne die wir nicht leben können, die wir aber loslassen müssen.


Erinnerungen und Visionen.

Der Tod des Kindes verändert alles. Die Trauer, mit der die Eltern ein ganzes Leben lang kämpfen, ist für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen. Gespräche mit Menschen, die das Gleiche erlebt haben, können helfen. Meine Suche nach Gleichgesinnten gestaltete sich schwierig. In Zwillingsgruppen und Foren fühlte ich mich falsch, Vom ABC Club (Verein für Drillings- und höhergradige Mehrlingsfamilien) schreckte ich zunächst zurück. Was ich suchte habe ich dort anfangs nicht gefunden – deshalb engagierte ich mich selbst. Bin Mitglied geworden und mittlerweile seit zwei Jahren mit im Vorstand als Ansprechpartnerin für verwaiste Mehrlingseltern und Eltern mit behinderten Kindern, Mit dem ABC Club und für in organisierte ich das Treffen für verwaiste Mehrlingseltern, welches auch in diesem Jahr wieder stattfinden wird. Sechs Jahre alt sind meine Drillinge nun schon. Bruno ist aufgeregt und kann die Schule kaum erwarten, Sten wird noch ein weiteres Jahr im Landesblindenzentrum den Kindergarten besuchen. Die Vorstellung, dass auch er vor mir sterben wird, ist eine tagtägliche Herausforderung. An manchen Tagen kaum tragbar, diese Last. Weiterl(i)eben, lebensbejahend bleiben, mich nicht selbst vergessen, Hilfe holen und annehmen, einfach aushalten können – das habe ich gelernt. Erinnerungen tun nicht nur weh, sondern können auch glücklich machen. Für die Zukunft wünsche ich mir jeden Tag einen Grund zum Lächeln.


Die Autorin Mandy Korb, Jahrgang 1978, wohnt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Oberwiesenthal.
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Mandy Korb, Oberwiesenthal